Die Natur erobert sich das Gelände Stück für Stück zurück |
Das in Magdeburg-Buckau beheimatete Grusonwerk spezialisierte sich Ende der 1880er Jahre auf die Produktion von Hartgussgranaten für das Militär. Um die eigene Produktion von Granaten, Panzergeschossen und Panzerplatten zu testen, legte man im nahe gelegenen Tangerhütte im Jahr 1888 einen Schießplatz mit einer 10 Kilometer (andere Quellen sprechen von 8 Kilometer) langen Schießbahn in Richtung Jerchel an. In „Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte“ (siebzigster Band, April 1891 bis September 1891) erfährt man dazu folgendes:
„Zu Erprobung der Kriegsmaterialien dienen zwei Schießplätze, deren einer in der Nähe des Werkes bei Buckau, deren anderer bei der Station Tangerhütte der Linie Magdeburg-Wittenberge gelegen ist. […] Der bei Tangerhütte gelegene Schießplatz ist zehn Kilometer lang und rings von Nadelholzwaldung umgeben; entlang der Schußlinie sind in Entfernung von 500 zu 500 Metern gepanzerte Unterkunftsstände angeordnet. Eine große Zahl von Signalvorrichtungen und Meßinstrumenten giebt die Möglichkeit sicherer Beobachtung der Schußwirkung.“
Abbildung aus „Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte“: Auf dem Schießplatze bei Tangerhütte |
Die Beobachtungsstände waren mit Meßgeräten und auch mit Fernsprechanschlüssen ausgestattet. Außerdem waren auf der Schießbahn alle 100 Meter Meßpfähle aufgestellt.
Im September 1890 fand dort ein weit beachtetes, fünftägiges Versuchsschießen statt, dem über 200 Vertreter der wichtigsten Militärstaaten der Welt beiwohnten. In „Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte“ erfährt man auch dazu Interessantes:
„In neuester Zeit hat das Grusonwerk durch die im September vorigen Jahres auf seinem bei Tangerhütte gelegenen Schießplatze angestellten fünftägigen Versuche das Interesse der gesamten militärischen und technischen Welt auf das höchste in Anspruch genommen. Zu denselben waren gegen zweihundert Offiziere und Ingenieure aller Militärstaaten – mit Ausnahme Frankreichs – geladen. Von neuem wurde hier ein beredtes Zeugnis abgelegt für die Größe und Selbständigkeit der deutschen Eisenindustrie.“
Ansichtskarte (gelaufen 1899) mit Bildmotiv „Krupp-Grusonwerk-Schiessplatz“ |
Mit eigens dafür eingerichteten Sonderzügen trafen die Militärexperten zunächst auf dem Tangerhütter Bahnhof ein, von dort ging es auf den werkseigenen 1,2 km langen Gleisanlagen direkt auf den Schießplatz, wo große Zelte zur Bewirtung der ausländischen Gäste aufgebaut waren. Unter ihnen finden sich so illustre Persönlichkeiten wie z. B. der japanische kaiserliche Marine-Vizeminister und Admiral Kabayama Sukenori, oder der US-amerikanische Marineattaché Lieutenant Aaron Ward.
Aber auch königliche Gäste sind auf dem Schießlatz keine Seltenheit, wie z. B. der Besuch des Prinzen Leopold von Bayern am 24. August 1892 beweist.
Doch nicht nur um die zahlungskräftige Kundschaft wurde sich gekümmert, das Grusonwerk ist auch bekannt für seine Wohlfahrtseinrichtungen, in deren Genuss die rund 3.000 Arbeiter und Angestellten (Stand 1890) kamen. Auch hierzu gibt „Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte“ Auskunft:
„Von besonderem Interesse sind noch die großartigen Wohlfahrtseinrichtungen, welche bereits vor Jahren von Hermann Gruson in liberalster Weise ins Leben gerufen wurden. Zunächst liefert eine Kantine den Angehörigen des Werkes gute und billige Nahrungs- und Genußmittel; die hier erzielten Überschüsse fließen in die Kassen der sogenannten „Grusons Arbeiter-Stiftung“ und des „Pensions-Vereins der Beamten und Meister des Grusonwerks“. Eine allgemeine Unterstützungskasse leistet Hilfe bei unverschuldeter Notlage. Speciell für das leibliche Wohl sorgen eine Konsumanstalt, eine Arbeiterküche mit Speisesaal für achthundert Personen, sowie eine Badeeinrichtung mit zahlreichen Brausezellen.“
Im Jahre 1891 beendet der Firmengründer seine aktive Tätigkeit im Unternehmen, zwei Jahre später wurde die „Grusonwerk AG Buckau“ von Alfred Krupp übernommen.
Das Ehepaar Krupp hatte bereits 1890 den Schießplatz in Tangerhütte besucht, und man darf annehmen, dass wohl schon zu diesem Zeitpunkt der Entschluss zur Übernahme durch den „Kanonenkönig “ Friedrich Alfred Krupp reifte, denn mit dieser Übernahme schaltete Krupp seinen ärgsten Konkurrenten auf diesem Gebiet aus. Im Russisch-türkischen Krieg (1877-1878) z. B. standen sich beide Parteien praktisch gegenüber, wobei die Gruson-Granaten in der Regel besser abschnitten als die aus den Werken Krupps. Zur Übernahme sind folgende Äußerungen Friedrich Krupps überliefert:
„[…] aber ich wusste, daß der Weltmarkt für zwei deutsche Werke in diesem Gebiet keinen Platz hat. Ich hätte dem Vaterland einen schlechten Dienst erwiesen, wenn ich ein blühendes Werk mit all seinen Arbeitern und Beamten durch die Übermacht des Kapitals lahmgelegt hätte; da habe ich es lieber erworben […]“
Reklamemarke |
Der Tangerhütter Schießplatz diente bis zum 1. Weltkrieg der weiteren Erprobung und Vervollkommnung von Waffen, und auch das Werk erlebte durch die Hochrüstung der europäischen Mächte einen starken Aufschwung. Diesem Treiben wurde nach dem verlorenen Weltkrieg durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages ein Ende gesetzt, und das Übungsschießen wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 1919 eingestellt. Der Schießplatz wurde stillgelegt und in der Folgezeit aufgeforstet.
Der Verlauf der Schießbahn von Tangerhütte in Richtung Jerchel ist noch heute auf Karten nachzuvollziehbar |
Interessant zu erwähnen ist auch eine 1 Kilometer lange gepflasterte Rundstrecke in unmittelbarer Nähe des Schießplatzes. Sie diente zum Einfahren von Schnellfeuerkanonen. Nach der Schließung des Schießplatzes wurde die Rundstrecke von Radrennfahrern aus ganz Deutschland genutzt und war weit über die Grenzen der Region bekannt. Die dort veranstalteten Rundstreckenrennen fanden großen Anklang bei der Bevölkerung.
Über die Zeit danach finden sich nur spärliche Informationen.
Aus der Firmenchronik der „Mahrenholz Altmark GmbH“ erfährt man allerdings folgendes: Nach Kriegsende und mit der Einstellung des Schießbetriebes, wurde der Schießplatz zu einem Betrieb für Landmaschinen umfunktioniert. Ab 1920 wurden in der damaligen Firma Gartenmöbel produziert. Mit der Einführung neuer Maschinen, dem Bau eines Sägewerks und einer Holztrocknungsanlage wurde mit der Holzbe- und verarbeitung begonnen.
1921 jedoch ziert das Verwaltungsgebäude des „Krupp'schen Schießplatzes Tangerhütte“, umrahmt von mititärtechnischem Gerät, die Rückseite eines 25-Pfennig-Notgeldscheines des Rabatt-Spar-Vereins Vaethen-Tangerhütte:
Rückseite des 25-Pfennig-Notgeldscheins aus dem Jahr 1921 mit dem Motiv des Verwaltungsgebäudes des Krupp'schen Schießplatzes |
Rückseite eines 25-Pfennig-Notgeldscheins mit einer Darstellung der Schiessbahn als Motiv |
Notgeldschein mit Kanone als Motiv |
Ab 1933, nach der Machtübernahme Hitlers und mit der beginnenden Wiederbewaffnung bzw. starken Aufrüstung Deutschlands, konzentrierte sich die Produktion auf die Herstellung von Kasernenausrüstungen, Waffen- und Munitionskisten.
Nach dem 2. Weltkrieg wurden im Werk Tangerhütte Möbel und Bauelemente gefertigt, bis man sich ab 1950 auf die Herstellung von Holzfenstern, Holztüren und Holzmöbeln spezialisierte. Soweit ich recherchieren konnte, bestand der „VEB Holzindustrie Altmark Tangerhütte“ – wie der Betrieb zu DDR-Zeiten hieß – von 1949 bis 1987.
Im Jahr 1990 wurde dann die „Altmark Holz GmbH“ gegründet, die Bauelemente und Gestelle für die Möbelindustrie fertigte. Aus ihr entstand ein Jahr später die „Altmark Fenster- und Fassadentechnik GmbH“, die wiederum 1998 in „Mahrenholz Altmark GmbH“ umbenannt wurde.
Ob heute auf dem Gelände noch produziert wird, ist mir nicht bekannt. Es gibt zwei oder drei größere Hallen, die eingezäunt und die nicht dem allgemeinen Verfall preisgegeben sind. Der größte Teil des Geländes liegt jedoch brach, und die meisten Gebäude sind mehr oder weniger stark beschädigt und verfallen allmählich.
Besonders bedauerlich ist der schlechte Zustand des villenartigen Empfangs- bzw. Verwaltungsgebäudes des ehemaligen Schießplatzes. Dieses Gebäude steht wie die meisten anderen leer und ist Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert. Man kann sich leicht vorstellen, dass dieses Haus sicher schon bald nicht mehr zu retten sein wird, wenn nicht entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Vor über 90 Jahren zierte dieses Gebäude einen Notgeldschein. Wie lange wird es Wind, Wetter und Vandalismus noch trotzen? |
Postkarte um 1900 |
Die ganze Dramatik um den Verfall und den ganz besonderen Charme, den dieser Ort verströmt, habe ich versucht in diesem Bild (Montage) auszudrücken:
Und hier weitere Impressionen des Geländes. Alle Fotos wurden von mir am 21. Juli 2012 aufgenommen.
Die Gebäude werden langsam von Büschen und Bäumen umschlossen |
Blick auf eine der großen Fertigungshallen auf dem Gelände |
Anderer Blickwinkel auf diese Halle |
Blick ins Innere einer anderen Halle auf dem Gelände |
...ohne Funktion |
Letzte Überbleibsel aus vergangenen Tagen |
Welche Arbeiten hier wohl einst verrichtet wurden...? |
Hier fehlt schon lange das schützende Dach |
Blick ins Innere eines Verwaltungsgebäudes |
Ausgediente Drehscheiben für Loren |
Hier hält schon lange niemand mehr... |
Heute keine aktuellen Aushänge! Vergessener Schaukasten in der Nähe der Toreinfahrt auf das Gelände |
...auch hier muss sich wohl niemand mehr Sorgen machen |
Verfallenes Pförtnerhaus direkt neben dem Tor zum Gelände |
Blick ins Innere des Pförtnerhauses. Hier herrschte früher sicher mehr Ordnung! |
Das Tor ist längst verschlossen |
Nachtrag vom 21. Januar 2014: Wie ich erst jetzt aus der Magdeburger Volksstimme erfahren habe, ist die schöne alte Holzvilla am 12. August 2013 bei einem Brand vernichtet worden...
Die alte Villa steht in Flammen (Link zum Originalfoto) |
Die traurigen Überreste der alten Villa (Link zum Originalfoto) |
Quellen: Internetseite der Firma Mahrenholz Altmark GmbH (www.mahrenholz-altmark.de); Webseite der Europese Bibliotheek (www.europese-bibliotheek.nl) mit Büchern über Tangerhütte; Webseite des Panzer-Archivs (www.panzer-archiv.de) zum Grusonwerk; weitere Quellen wie im Text angegeben. Fotos © Christian Adam bzw. wie angegeben.
Sehr interessant!
AntwortenLöschenBesonders das Bild mit den Aktenordnern - mal reingeschaut? Vielleicht sind noch irgendwelche Aufzeichnungen da...
Beste Grüße!
S.t.a.l.k.e.r.
Ist ein interessanter Bericht. Die Villa mit dem Wolkenbruch sieht ja toll aus.
AntwortenLöschenGruß aus Brandenburg
Ich war heute vor Ort. Die Villa ist jetzt offen. Da liegen jede Menge Akten von der Fa.Mahrenholz rum. Aber ach wichtige Unterlagen wie z.B. Lohnabrechnungen. Soviel zum Thema Datenschutz.
AntwortenLöschenGruß Zeitzeiger
Zu dem Foto :,, Welche Arbeiten hier wohl verrichtet wurden... "
AntwortenLöschenDas war die 1987 neu errichtete Halle mit einem Gatter,direkt neben dem alten Sägewerk.
Hallo. Sind Sie an dem Tag als Sie diesen Kommentar gepostet haben auch da gewesen?
LöschenKann man den ort noch besuchen bzw. Gibt es den noch? Lg
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